Über Kunst: Thomas Locher

Wie man an die Buchstaben kommt
Thomas Locher bei der Reihe "Über Kunst"
In Stuttgart studierte Thomas Locher von 1979 bis 1985 parallel an Kunstakademie und Universität; Stuttgart blieb er verbunden, als Dozent an der Merz-Akademie im Wintersemester 1997/98 und durch Werke in verschiedenen Sammlungen. Locher, Jahrgang 1956, zählt heute zu den international bedeutendsten deutschen Künstlern. Er lebt in Berlin und Kopenhagen, war bis 2016 Professor an der Königlich Dänischen Kunstakademie - aber Stuttgart prägte ihn, die Kunst, die er als Schüler in der Staatsgalerie erlebte, die Ausstellung „Europa 79“ vor allem, organisiert im nämlichen Jahr von privaten Galerien, von Hans-Jürgen Müller, Ursula Schurr und Max Hetzler. „Ich glaube“, sagt Thomas Locher heute, „das ging nicht nur mir so. Für eine gewisse Szene spielte diese Ausstellung damals eine sehr große Rolle.“
Eine große Rolle spielte für Locher auch ein Böblinger Lateinlehrer - „Er schenkte uns Schülern 1971 ein Reclamheft zur Konkreten Poesie“, erinnert er sich. „Das war wahrscheinlich die interessanteste Geste, die mit in meiner Schulzeit widerfahren ist.“ Thomas Locher wurde geboren in Munderkingen, einer Gemeinde des Alb-Donau-Kreises, in Oberschwaben. „Mein Vater war Steuerexperte und zehn Jahre lang Vorstand des Liederkranzes, meine Mutter Hausfrau“, erzählt er. „Es gab in unserer Familie eine gewisse Offenheit fürs Kulturelle, aber bis ich anfing, zu studieren, hatte ich keine Ahnung von der Gegenwartskunst.“ Als Student war Locher auch Gasthörer bei Max Bense - „Und so“, sagt er, „kommt man ein bisschen an die Buchstaben.“ 
Buchstaben, Texte, spielen im bildnerischen Werk von Thomas Locher bis heute eine zentrale Rolle. Angeregt wurde dies sicher auch durch eine Begegnung mit Lawrence Weiner, der sich 1985 an einer von Tanja Grunert in Stuttgart gestalteten Ausstellung beteiligte. „Ich hatte noch niemals einen Künstler auf diesem Niveau über Politik und Philosophie reden hören“, erinnert sich Locher an die Begegnung. 
Aus der Philosophie bezieht Locher selbst ganz wesentliche Anregungen - vor allem aus jener Jacques Derridas. In einer umfangreichen Werkreihe beschäftigt Locher sich mit Karl Marx, mit dem Kapitel zum Fetischcharakter der Waren in „Das Kapital“. Ware, Fetisch - das ist auch die Kunst, heute mehr denn je, und Thomas Locher sieht dieses Problem. „Wenn die Kunst Wirkung entfalten will“, sagt er, „dann muss sie das tun mit etwas, das mehr ist. Wer über den Fetisch arbeitet, der produziert selbst einen. Das ist ein Paradoxon - man kann dieser Konstellation überhaupt nicht entgehen.“ 
Keine Auflösung des Paradoxons, sondern eher seine Formulierung fand Thomas Locher bei Derrida, der in seinem Buch „Falschgeld“ die Gabe als ein Beispiel entwickelt, das weder dem Ökonomischen, noch dem Nichtökonomischen zugeordnet werden kann - „Ein brillantes Buch“, sagt Locher. Spricht der Künstler über Marx und Derrida, über Giorgio Agamben auch, wird seine Leidenschaft für die Theorie ganz deutlich. Lochers Berliner Atelier befindet sich heute auf einem Areal, auf dem früher die Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik angesiedelt war, deren Technologiezentrum. „Dort arbeiteten tausende von Ingenieuren, dort wurden Überwachungskameras hergestellt und das, was in der DDR HighTech war“, sagt er. Dass Locher diese Räume bezog, war letztlich Zufall, keine konzeptionell gedachte Geste - aber er erwehrt sich der Vergangenheit auf sehr bezeichnende Art: „Ich habe rund 8000 Bücher reingestellt, und die sind stark. Das ist sozusagen mein kleiner Schutz. Meine Literatur, mein Archiv.“ 
Die Geste, mit der Andrej Rubljow, historischer Ikonenmaler und Hauptfigur des Filmes von Tarkowski aus dem Jahr 1966, Farbe gegen eine weiße Kirchenwand wirft, unfähig, zu glauben Glauben, den „Kraftakt der Formfindung“ zu vollbringen, beeindruckt Thomas Locher, obschon Tarkowski zugleich romantisiert und polemisiert: „Es ist eine wichtige und interessante Geste, weil sie natürlich auch eine kulturelle Geste ist und aus unserem Wissen um die Moderne kommt.“ Locher selbst hat Farbbeutel geworfen, auf Sätze von Karl Marx, zwischen denen sich für ihn eine Lücke auftut, die den Fetischcharakter der Ware von ihrer sozialen Bedeutung trennt. 

Zuletzt zeigte Locher in der Stuttgarter Galerie Reinhard Hauff eine Werkgruppe unter dem Titel „Dead Letter. Dying Metaphors. graft, press, hang“ - auch hier wieder, vor allem mit dem Verb „to graft - pfropfen“, Jacques Derrida, der Textformen, Wörter, Sätze unterschiedlicher Art zusammenbrachte, pfropfte. „Der Buchstabe“, sagt Thomas Locher, „ist immer wichtig, weil er den Einbruch des Rationalen in die Wahrnehmung darstellt.“ Rezipienten, dies hat Locher über die 30 Jahre seiner künstlerischen Karriere hin beobachtet, wollen Kunst betrachten; lesen wollen sie nicht. „Bei mir“, sagt er, „geht das nicht. Wenn man lesen kann, bleibt einem bei ihnen nichts anderes übrig. Das ist die Aufforderung des Buchstabens, dass er nicht nur gesehen und wahrgenommen werden kann, sondern auch gelesen werden muss.“ 

Begriffe, Buchstaben, die „Würde“, „Subjekt“, „Freiheit“ und „Gleichheit“ bedeuten, sind es, die Thomas Lochers Arbeit aktuell bestimmen, in den kommenden Jahren zunehmend noch bestimmen werden. Als Konzeptkünstler will Locher sich jedoch nicht Fall verstanden wissen. „Joseph Kosuth“, sagt er, „hat das ganz richtig gesehen, in 'The Art of Philosophy', dass alle Kunst ihrem Wesen nach konzeptionell ist. Das heißt aber nicht, dass man die Erlaubnis hat, als Konzeptkünstler durch die Welt zu gehen. Ich glaube, dass der Begriff die historische Markierung einer gewissen Generation ist, und ich fühle mich dazu aufgerufen, ein anderes Wort zu suchen.“

Thomas Locher besuchte die Documenta in Athen, sah, wenige Tage vor dem Gespräch „Über Kunst“ in Stuttgart, auch Andreas Veiels Film „Beuys“. Der Gegenwartskunst attestiert Locher ein Relevanzproblem: „Der Film über Beuys“, sagt er, „speist sich aus einer unfassbaren Menge an Dokumenten und Materialien, zeigt Beuys als Künstlerfigur, als politischen Akteur. Die Öffentlichkeit war dabei, nahm teil. Auf der Documenta kannte ich 60 Prozent der Künstler gar nicht. Da muss ich passen - aber ich muss auch genauer hinsehen.“ 

Nach Leipzig geht Thomas Locher gespannt gelöst zugleich. „Eine Hochschule zu leiten“, sagt er, „kann durchaus auch eine sportliche Aufgabe sein.“ Beweisen muss er sich allerdings längst nichts mehr - aber er hat auch Hintergedanken, sagt: „Ich wollte nicht gänzlich aus dem institutionellen Kontext ausscheiden. Und es gibt eine politische Großwetterlage, die ich sehr bedrohlich finde, und die auch gewisse Tendenzen hat, was Institutionen angeht.“ 

Eine Kunsthochschule leitete Thomas Locher bislang noch nicht, aber er spricht vom Glück, in Dänemark gelebt und dort Teamgeist gelernt zu haben. „An deutschen Kunsthochschulen“, sagt er „ist es so eine Sache, mit der Teamfähigkeit. Aber ich kenne eine Vielzahl der Kollegen bereits und glaube, dass man vielleicht ein Bedürfnis danach hat, auch wenn man das vielleicht nicht ausgelebt hat.“ Der Malerei in Leipzig steht der in Stuttgart künstlerisch sozialisierte Locher indes mit Skepsis gegenüber - „Die Leipziger Schule muss sich noch einmal neu erfinden. Mit oder ohne Neo Rauch - das ist eigentlich egal, aber sie müsste noch einmal irgendetwas aus sich heraus nach vorne bringen, was diese Form der Malerei interessant macht.“

Als Rektor der Hochschule für Grafik und Bildkunst in Leipzig will Locher sich in die Lehre nicht einmischen - „ Rektoren müssen zu Politikern werden, sie müssen das Geld beschaffen. Das ist das große Problem. Aber eigentlich funktionieren Hochschulen ganz gut, wenn es dort interessante Studiengänge gibt und interessante Lehrkräfte.“ Vernetzung, sagt Thomas Locher, will erarbeitet sein - und Hochschulen müssen, „im Zeitalter des Performativen“, auch wenn dies ihren Rektoren nicht gefällt, mitunter zu Veranstaltungsorten werden: „Das ist zwar für eine Hochschule anstrengend, weil sie dafür eigentlich nicht gemacht ist, aber es bringt was, es bringt auch ein gutes Gefühl.“

Mit einem guten Gefühl fährt nun auch Thomas Locher nach Leipzig - zwei Tage vor seinem Amtsantritt wirkt er weit eher gelassen, als gespannt. „Mir kann ja keiner was“, sagt er, und lacht. „Ich konnte ja auch davor immer schon sagen, was ich wollte. Ich bin 60 Jahre alt. Ich habe keine Folgekarriere, die ich gefährden könnte. Ich bin in der Endstufe angelangt - ich kann ganz entspannt die Mächte auf mich wirken lassen.“ 


Stuttgarter Nachrichten, 1. Juni 2017

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