Thomas Morawitzky, Journalist
Zuletzt zeigte Locher in der Stuttgarter Galerie Reinhard Hauff eine Werkgruppe unter dem Titel „Dead Letter. Dying Metaphors. graft, press, hang“ - auch hier wieder, vor allem mit dem Verb „to graft - pfropfen“, Jacques Derrida, der Textformen, Wörter, Sätze unterschiedlicher Art zusammenbrachte, pfropfte. „Der Buchstabe“, sagt Thomas Locher, „ist immer wichtig, weil er den Einbruch des Rationalen in die Wahrnehmung darstellt.“ Rezipienten, dies hat Locher über die 30 Jahre seiner künstlerischen Karriere hin beobachtet, wollen Kunst betrachten; lesen wollen sie nicht. „Bei mir“, sagt er, „geht das nicht. Wenn man lesen kann, bleibt einem bei ihnen nichts anderes übrig. Das ist die Aufforderung des Buchstabens, dass er nicht nur gesehen und wahrgenommen werden kann, sondern auch gelesen werden muss.“
Begriffe, Buchstaben, die „Würde“, „Subjekt“, „Freiheit“ und „Gleichheit“ bedeuten, sind es, die Thomas Lochers Arbeit aktuell bestimmen, in den kommenden Jahren zunehmend noch bestimmen werden. Als Konzeptkünstler will Locher sich jedoch nicht Fall verstanden wissen. „Joseph Kosuth“, sagt er, „hat das ganz richtig gesehen, in 'The Art of Philosophy', dass alle Kunst ihrem Wesen nach konzeptionell ist. Das heißt aber nicht, dass man die Erlaubnis hat, als Konzeptkünstler durch die Welt zu gehen. Ich glaube, dass der Begriff die historische Markierung einer gewissen Generation ist, und ich fühle mich dazu aufgerufen, ein anderes Wort zu suchen.“
Thomas Locher besuchte die Documenta in Athen, sah, wenige Tage vor dem Gespräch „Über Kunst“ in Stuttgart, auch Andreas Veiels Film „Beuys“. Der Gegenwartskunst attestiert Locher ein Relevanzproblem: „Der Film über Beuys“, sagt er, „speist sich aus einer unfassbaren Menge an Dokumenten und Materialien, zeigt Beuys als Künstlerfigur, als politischen Akteur. Die Öffentlichkeit war dabei, nahm teil. Auf der Documenta kannte ich 60 Prozent der Künstler gar nicht. Da muss ich passen - aber ich muss auch genauer hinsehen.“
Nach Leipzig geht Thomas Locher gespannt gelöst zugleich. „Eine Hochschule zu leiten“, sagt er, „kann durchaus auch eine sportliche Aufgabe sein.“ Beweisen muss er sich allerdings längst nichts mehr - aber er hat auch Hintergedanken, sagt: „Ich wollte nicht gänzlich aus dem institutionellen Kontext ausscheiden. Und es gibt eine politische Großwetterlage, die ich sehr bedrohlich finde, und die auch gewisse Tendenzen hat, was Institutionen angeht.“
Eine Kunsthochschule leitete Thomas Locher bislang noch nicht, aber er spricht vom Glück, in Dänemark gelebt und dort Teamgeist gelernt zu haben. „An deutschen Kunsthochschulen“, sagt er „ist es so eine Sache, mit der Teamfähigkeit. Aber ich kenne eine Vielzahl der Kollegen bereits und glaube, dass man vielleicht ein Bedürfnis danach hat, auch wenn man das vielleicht nicht ausgelebt hat.“ Der Malerei in Leipzig steht der in Stuttgart künstlerisch sozialisierte Locher indes mit Skepsis gegenüber - „Die Leipziger Schule muss sich noch einmal neu erfinden. Mit oder ohne Neo Rauch - das ist eigentlich egal, aber sie müsste noch einmal irgendetwas aus sich heraus nach vorne bringen, was diese Form der Malerei interessant macht.“
Als Rektor der Hochschule für Grafik und Bildkunst in Leipzig will Locher sich in die Lehre nicht einmischen - „ Rektoren müssen zu Politikern werden, sie müssen das Geld beschaffen. Das ist das große Problem. Aber eigentlich funktionieren Hochschulen ganz gut, wenn es dort interessante Studiengänge gibt und interessante Lehrkräfte.“ Vernetzung, sagt Thomas Locher, will erarbeitet sein - und Hochschulen müssen, „im Zeitalter des Performativen“, auch wenn dies ihren Rektoren nicht gefällt, mitunter zu Veranstaltungsorten werden: „Das ist zwar für eine Hochschule anstrengend, weil sie dafür eigentlich nicht gemacht ist, aber es bringt was, es bringt auch ein gutes Gefühl.“
Mit einem guten Gefühl fährt nun auch Thomas Locher nach Leipzig - zwei Tage vor seinem Amtsantritt wirkt er weit eher gelassen, als gespannt. „Mir kann ja keiner was“, sagt er, und lacht. „Ich konnte ja auch davor immer schon sagen, was ich wollte. Ich bin 60 Jahre alt. Ich habe keine Folgekarriere, die ich gefährden könnte. Ich bin in der Endstufe angelangt - ich kann ganz entspannt die Mächte auf mich wirken lassen.“
Stuttgarter Nachrichten, 1. Juni 2017