Robert Wyatt

Der Mann mit der traurigsten Stimme
1972 war es, da reiste Robert Wyatt nach Venedig. Kurz zuvor hatte er Alfreda Benge kennen gelernt, Alfie, seine spätere Frau. Sie sollte die Cover aller seiner Alben gestalten, war zu jener Zeit aber vor allem Filmemacherin und eng befreundet mit der Schauspielerin Julie Christie. Alfreda Benge gehörte zum Team, mit dem Nicholas Roeg in Venedig den Film „Don't look Now“ drehte - „Wenn die Gondeln Trauer tragen“. 
Alfie schenkte Robert ein billiges Keyboard, und er begann darauf zu spielen, begann, inspiriert von Venedig, Songs zu schreiben. „Sea Song“ heißt das erste Stück auf „Rock Bottom“, dem vielleicht ungewöhnlichsten Album der 1970er Jahre: ein skurriles, surreales Liebeslied, getragen vom Klang dieses billigen Keyboards. Als das Paar aus Venedig nach London zurückkehrte, geschah, was Robert Wyatts Leben für immer veränderte: Während einer Party in London fiel er aus einem Fenster im vierten Stock. Seither ist er querschnittsgelähmt. 
Wyatt hatte bis dahin ein ausschweifendes Leben geführt. Er wuchs auf in einem heruntergekommenen Landsitz nahe der Universitätsstadt Canterbury, seine Eltern vermieteten Zimmer an Studenten: Daevid Allen, der „Gong“ gründete, gehörte zu ihnen, Mike Rateledge und Kevin Ayers, die später in Wyatts eigener Band „The Soft Machine“ spielten. Wellington House wurde zum Ursprung der Canterbury-Szene, „The Soft Machine“ wurden, gleichauf mit Syd Barretts Pink Floyd, zur Sensation des psychedelischen London. Und Robert Wyatt war der ungewöhnlich talentierte Schlagzeuger, der den Free-Jazz in die Rockmusik brachte, der Hippie, der bei Konzerten in Südfrankreich nackt hinter seinem Instrument saß und auch sonst nur selten mit Hemd gesehen wurde. Illegale Drogen nahm er nicht - dafür trank er ohne Maß. „Soft Machine“ tourten durch die USA, die übrigen Bandmitglieder kehrten nach Großbritannien zurück - Wyatt blieb, zog durch die kalifornische Party-Szene, jammte mit Jimi Hendrix. 
Aber er war in sich gespalten. Schon als Teenager hatte Robert Wyatt einen Selbstmordversuch unternommen. Bei „Soft Machine“ sperrte er sich gegen die Entwicklung hin zu immer größerer Komplexität - und wurde zuletzt unsanft aus der Band gedrängt. Er litt unter Depressionen, verlor sich im Alkohol, schien unfähig, seine musikalischen Vorstellungen umzusetzen.
 Wyatt spricht ungern von seinem Unfall, berichtet sein Biograf Marcus O'Diar. Aber dem Selbstmitleid ergab er sich nie. Noch im Krankenhaus entdeckte er ein Klavier, arbeitete weiter an den Stücken, die er in Venedig begonnen hatte.  Aus dem Schlagzeuger wurde ein Keyboarder und Sänger. Auf „Rock Bottom“ setzt er Küchengeräte und seinen Atem als Percussioninstrumente ein.

 Das billige Keyboard aus Venedig prägt das ganze Album: „The beautiful Thing badly done“, sagt Wyatt. Das Schöne dilettantisch ausgeführt - eine Haltung, so weit entfernt von der Ironie des Punk, seiner Emphase des Hässlichen, wie vom Zuckerguss des späten Progressive-Rock. Auch 41 Jahre nach seiner Veröffentlichung hat „Rock Bottom“ nichts von seinem Reiz verloren: ein Album, das sich nicht einordnen lässt, eine schillernde Unterwasserwelt voll von englischem Humor und von Verzweiflung. 

Nicht lange nach seinem Unfall nahm Robert Wyatt ein zweites Album auf, „Ruth is stranger than Richard“. Und er spielte seine Version des Monkees-Hits „I'm a Beliver“ ein: Als Rollstuhlfahrer, begleitet von Avantgarde-Musikern wie Fred Frith, trat er in „Top of the Pops“ auf und kam in die Hitparade. Immer wieder zog Wyatt sich aber auch für Jahre zurück. In den 1980er Jahren veröffentlichte er nur zwei Alben, eines davon voller Coverversionen: „Nothing can Stop us“ ist eine grandiose Sammlung von Polit-Songs - „Strange Fruit“, Billie Holidays bittere Ballade über rassistische Morde in den USA, jagt neue Schauder über den Rücken, wenn Wyatt sie mit seiner zerbrechlichen Stimme singt. „Shipbuilding“, der Song, den Elvis Costello für Robert Wyatt schrieb, erschien als Single: Ein Protest gegen die Falklandkriege. 
Robert Wyatt hat mit vielen Musikern zusammengearbeitet, man hört seine Stimme auf Alben von Brian Eno und Nick Mason, Scritti Politti und Henry Cow, Ruichi Sakomoto, Björk und Hot Chip. Mit Nick Cave singt er auf dem Soundtrack des Dokumentarfilms „Nomaden der Lüfte“. Er nahm Pop-Songs auf, spielte mit Jazz-Musikern und veröffentlicht selbst Alben, die sich gegen Hörgewohnheiten sperren und doch in ihren Bann ziehen: Über allem schwebt diese Stimme, die viele für die traurigste der Welt halten. Der Mann, dem sie gehört, ist überzeugter Marxist, machte Front gegen Margaret Thatcher, liebt Nonsense-Reime, Winnie-the-Pooh und Lewis Caroll, leidet noch immer unter Depressionen, erscheint ungebrochen kreativ und engagiert: Ein Fatalist, der unbeirrbar am Leben festhält.  
„Ich glaube, dass dass Leben hart ist“, sagte Robert Wyatt zu Marcus O'Dair. „Kennst du das Sprichwort: Der Teufel steckt im Detail? Ich glaube der Teufel es ist, der die große Show schmeißt, und Gott steckt im Detail. Ich glaube, dass diese ganze Show eine Teufelei ist, aber dass man, trotz alledem, immer wieder kleine wundervolle Augenblicke pflücken kann, wenn man geschickt ist und Glück hat. Diese Art, die Dinge zu sehen, ist die einzige, die einen Sinn ergibt.“ 

Stuttgarter Nachrichten, 27. Januar 2015
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