Schreie, Tänze, Texte, Lärm, Musik und viele Bilder: Schorsch Kamerun hat im Schauspiel Nord seine musiktheatrale Versuchsreihe auf den Spuren deutschsprachiger Literaturrebellen gestartet. „Das glaubst du ja wohl selber nicht“ - so heißt sie. Ein guter Titel.
Schorsch Kamerun ist erst einmal nicht Schorsch Kamerun, an diesen Abenden - bevor die Show beginnt steigt er auf eine Kiste, stellt sich vor mit seinem bürgerlichen Namen und als Angehöriger des Abenddienstes; er fordert alle Besucher auf, ihre digitalen Geräte angeschaltet zu lassen: „Damit wir Sie orten können, damit sie nicht verloren gehen. Wir wollen sie finden.“
Und wirklich: Man kann sich verlieren, in diesem Stück, das eigentlich kein Stück ist, dieser Installation, diesem Konzert, dieser Ausstellung. Das Publikum wird durch einen hölzernen Gang in die Spielstätte geführt; das Holz ist beklebt mit Seiten aus den Underground-Magazinen der 1960er und 1970er Jahre, mit Texten und Übersetzungen von Jörg Fauser, Carl Weissner, Rolf Dieter Brinkmann, Jürgen Theobaldy. Auch sie wollten auffallen, geortet, gefunden werden; Schreiben war für sie Experiment und Bekenntnis, Sichtbarkeit.
Ausgangspunkt der zehn Abende, die Schorsch Kamerun im Nord gestaltet, war sein Besuch im Literaturarchiv Marbach, in dem sich seit drei Jahren der Nachlass Carl Weissners befindet - ein Film, der Kamerun beim Gang durchs Archiv zeigt, bildet den Epilog der Aufführung. Fauser und Weissner hat er nun die ersten beiden Abende seiner Versuchsreihe gewidmet - sie ähneln sich in vielen Dingen, unterscheiden sich vor allem durch das, was vorgetragen wird. Am Freitag ist es der Schauspieler Matti Krause, der in einem Sessel sitzt und mit starkem Ausdruck, voller Spott und Raserei die Texte Fausers liest, der 1984, drei Jahre vor seinem Tod, von der Jury des Ingeborg-Bachmann-Preises in Klagenfurt verrissen wurde. Am Ende des Abends werden Schauspieler diese Jury nachspielen - Reich-Ranicki, Peter Härtling, Walter Jens gehörten ihr an, hielten Fauser Grobheit, Trivialität vor.
„Das Expressive“ und „Das Rauschhafte“ sind die beiden ersten Abende überschrieben - Expressives, Rauschhaftes findet sich bei Jörg Fauser natürlich ebenso, wie bei Carl Weissner, und die Inszenierungen überschneiden sich: Da geht eine Frau vorbei, verkleidet als Wasserpfeife, ihre Arme enden in Mundstücken, die sie dem Publikum reicht. Tänzerinnen springen auf und erstarren in schillernden Ganzkörperkostümen, psychedelische Wesen. Ein Schauspieler ist eine Agave, die Pflanze, aus der Tequila gewonnen wird; einer trägt einen bodenlangen Bart und blickt das Publikum schweigend an. Und die Bar, die irgendwann eröffnet, wird vom Regisseur ausgerufen als erster Orientierungspunkt in diesem Spiel.
Schorsch Kamerun macht das Nord zu einem Ort jenseits aller Konventionen, das Theater wird zum Beispiel der Gesellschaft. Eine Bühne gibt es nicht mehr, auch keine Grenze zwischen Publikum und Ensemble: Dem gehören, neben ausgebildeten Schauspielern, zahlreiche Laien an.