Gordard mit 85

Der lange Traum vom Glück der Bilder
Jean-Luc Godard mit 85
In Belmondos Mundwinkel die Zigarette, er fährt sich mit dem Daumen über die Lippen. Jean Seberg ist eine Amerikanerin in Paris, sie studiert an der Sorbonne, trägt niemals einen BH. Eine Autofahrt: Seberg lacht, ihr Kopf hüpft von Bild zu Bild. Das Bild springt, ein Mythos ist geboren. „Außer Atem“ wurde 1960 zum erfolgreichsten Film der Nouvelle Vague, Jean-Luc Godard neben Francois Truffaut zu ihrem führenden Regisseur. 
Anders als Truffaut näherte sich Godard niemals dem Geschmack eines breiten Publikums, viele seiner späteren Filme fanden nur sehr wenige Zuschauer. Jene, die er vor 1968 drehte, gehören zu den großen und einflussreichsten Meisterwerken des Kinos - Quentin Tarantinos „Pulp Fiction“ ist vor allem eine Hommage an den frühen Godard, wenn Uma Thurman und John Travolta tanzen, dann ist das das Echo einer Szene aus „Bande à Part“ („Die Außenseiterbande“, 1964). Tarantino benannte seine Produktionsfirma nach diesem Film: „A Band apart“.
Einen Film von Jean-Luc Godard einmal gesehen zu haben, heißt ihn kein mal gesehen zu haben. Godard war der Regisseur, der alles anders machte - „Eigentlich“, sagt er in einem späten Interview, „habe ich immer wieder von vorne begonnen.“ Jeder seiner Filme besitzt einen ganz eigenen Ton - und keiner von ihnen folgt den Regeln, die Hollywood dem kommerziellen Film gab. Spätestens von „Alphaville“ (1965) an, arbeitete Godard ohne ein Drehbuch. „Ich habe meine Filme immer so gemacht wie zwei, drei Jazzmusiker arbeiten“, sagt er. „Man gibt sich ein Thema, man spielt, dann organisiert es sich von selbst.“
Als 1967 mit „Week-End“ und „La Chinoise“ der große Bruch in Godards Werk kommt, er sich vom Kino abwendet, für mehr als ein Jahrzehnt zu einem experimentellen, politischen Filmemacher wird, hat er bereits zwölf abendfüllende Spielfilme gedreht. Filme in Schwarzweiß oder in leuchtenden Farben, Filme, in denen Handlung auf minimale Muster reduziert ist, in denen Raoul Coutards Kamera die Räume, Bilder, Situationen auslotet, ohne sich einer Konvention zu unterwerfen. 1995 erhält Godard den Theodor W. Adorno-Preis der Stadt Frankfurt, Klaus Theweleit spricht die Laudatio - und zitiert den Regisseur: „Bei mir ist ein Film auseinander genommen, wenn er fertig ist.“ Lesbar sind Godards Filme nur von der einzelnen Sequenz aus, der geschlossenen Form verweigern sie sich: Das Ganze ist das Unwahre.
„Week-End“ wurde berühmt durch eine Fahrt der Kamera an einem schier endlosen Verkehrsstau entlang - ein großbürgerliches Paar reist mit mörderischen Absichten aufs Land, die Welt stürzt ins Chaos, die Bourgeoise verzehrt sich selbst. Das Auto als sarkastisches Symbol kehrt in vielen Filmen Godards wieder. Nach 1967 filmt er diskutierende Studenten, übt aggressiv Kritik an Imperialismus und Konsum. „Ici et Ailleurs“ („Hier und anderswo“, 1976) beginnt als Dokumentarfilm über den Kampf der Palästinenser, entwickelt sich aber zu einer profunden Reflexion über die Macht der Bilder. 
Godards Filme der 1970er Jahre sind nicht nur faszinierende Dokumente jener Zeit - sie stellen Fragen, behaupten Positionen, die ihre Gültigkeit nicht verloren haben. Wenn heute die Produktion und Zirkulation von Bildern, ihr politischer Gehalt diskutiert wird, dann wundert es, dass dabei nicht Bezug auf ihn genommen wird. „Die ganze Welt“, heißt es in „Vladmir et Rosa“ (1971), „bringt das Bild hervor, aber das Bild umfasst nicht die ganze Welt“ - und: „Wir glauben, dass die Gemeinschaft verschiedener Ethnien schön sein kann wie ein Strauß von Blumen.“
Godard geht aus den 1970er Jahren verändert hervor. Mit „Sauve qui peut (la Vie)“ („Rette sich wer kann (das Leben)“, 1980) kehrt er ins Kino zurück, Isabelle Huppert, Jacques Dutronc, Nathalie Baye spielen. Seine Filme werden zu intellektuellen Bilderrästeln, ästhetischen Reflexionen, Essays. Bewusster denn je setzt Godard Musik ein - Pop, Klassik, Jazz. Er arbeitet eng mit dem Münchner Plattenlabel ECM zusammen. Seine Bilder gewinnen noch an Schönheit - aber an die Stelle der Popkultur mit ihren grellen Farben tritt nun die Natur, die er in ruhigen, langen Einstellungen zeigt.
Ein Provokateur bleibt er bis zuletzt. Am Anfang seiner Karriere sprang Jean Sebergs Kopf von hier nach dort, der „Jump Cut“, der abrupte Schnitt, war erfunden, ist heute ein verbreitetes Stilmittel, das längst nicht mehr irritiert, die Illusion des Filmes durchbricht. In „Goodbye to Language“, seinem letzten Film, setzt Godard die 3D-Technik auf boshaft abwegige Art ein, parodiert sie, verweigert sich jedem Effekt. „Those who lack imagination seek refuge in reality“ kommentiert er - wem es an Phantasie mangelt, der flüchtet sich in die Wirklichkeit. 
Von seinem Plan, eine Geschichte des Kinos zu erzählen, nicht in Worten, sondern in Bildern, spricht er bereits 1978 in seinem Seminar am Conservatoire d'Art Cinématographique in Montreal - ein höchst didaktisch angelegter Plan zu jener Zeit: Je vier Videokassetten zum Stumm- und Tonfilm mit nationalen Schwerpunkten schweben ihm vor. Als 1998, nach zehnjähriger Arbeit, sein spätes Hauptwerk „Histoire(s) du Cinema“ erscheint, hat sich dieser Anspruch gewandelt, aus dem Lehrwerk ist eine poetische Mediation über das Kino geworden, die Verführungskraft der Bilder, ihre „fatale Schönheit“ - mehr als vier Stunden, in denen Godard Motive aus Zeitgeschichte, Kunst- und Filmgeschichte montiert und befragt. Stumm- und Tonfilm überlagern sich, Bilder des Krieges und der Hoffnung, Hitchcocks Vögel verwandeln sich in angreifende Flugzeuge, die den Himmel verdunkeln. 
Aber die Bilder, sagt Jean-Luc Godard, sind das Glück. Zuletzt liest er jenen kurzen Text von S.T. Coleridge, den Borges aufnahm, in sein „Buch der Träume“: „Wenn ein Mensch im Traum das Paradies durchwanderte und man gäbe ihm eine Blume als Beweis, dass er dort war, und er fände beim Aufwachen diese Blume in seiner Hand - was dann?“ Eine gelbe Rose ist zu sehen, Godard blickt in die Kamera, sein Gesicht geht über in ein Gemälde. „Was bleibt noch zu sagen?“, fragt er. „Dieser Mensch war ich.“ Und das Bild erlischt. 

3. Dezember 2015, Stuttgarter Nachrichten
Share by: