Godards Filme der 1970er Jahre sind nicht nur faszinierende Dokumente jener Zeit - sie stellen Fragen, behaupten Positionen, die ihre Gültigkeit nicht verloren haben. Wenn heute die Produktion und Zirkulation von Bildern, ihr politischer Gehalt diskutiert wird, dann wundert es, dass dabei nicht Bezug auf ihn genommen wird. „Die ganze Welt“, heißt es in „Vladmir et Rosa“ (1971), „bringt das Bild hervor, aber das Bild umfasst nicht die ganze Welt“ - und: „Wir glauben, dass die Gemeinschaft verschiedener Ethnien schön sein kann wie ein Strauß von Blumen.“
Godard geht aus den 1970er Jahren verändert hervor. Mit „Sauve qui peut (la Vie)“ („Rette sich wer kann (das Leben)“, 1980) kehrt er ins Kino zurück, Isabelle Huppert, Jacques Dutronc, Nathalie Baye spielen. Seine Filme werden zu intellektuellen Bilderrästeln, ästhetischen Reflexionen, Essays. Bewusster denn je setzt Godard Musik ein - Pop, Klassik, Jazz. Er arbeitet eng mit dem Münchner Plattenlabel ECM zusammen. Seine Bilder gewinnen noch an Schönheit - aber an die Stelle der Popkultur mit ihren grellen Farben tritt nun die Natur, die er in ruhigen, langen Einstellungen zeigt.
Ein Provokateur bleibt er bis zuletzt. Am Anfang seiner Karriere sprang Jean Sebergs Kopf von hier nach dort, der „Jump Cut“, der abrupte Schnitt, war erfunden, ist heute ein verbreitetes Stilmittel, das längst nicht mehr irritiert, die Illusion des Filmes durchbricht. In „Goodbye to Language“, seinem letzten Film, setzt Godard die 3D-Technik auf boshaft abwegige Art ein, parodiert sie, verweigert sich jedem Effekt. „Those who lack imagination seek refuge in reality“ kommentiert er - wem es an Phantasie mangelt, der flüchtet sich in die Wirklichkeit.
Von seinem Plan, eine Geschichte des Kinos zu erzählen, nicht in Worten, sondern in Bildern, spricht er bereits 1978 in seinem Seminar am Conservatoire d'Art Cinématographique in Montreal - ein höchst didaktisch angelegter Plan zu jener Zeit: Je vier Videokassetten zum Stumm- und Tonfilm mit nationalen Schwerpunkten schweben ihm vor. Als 1998, nach zehnjähriger Arbeit, sein spätes Hauptwerk „Histoire(s) du Cinema“ erscheint, hat sich dieser Anspruch gewandelt, aus dem Lehrwerk ist eine poetische Mediation über das Kino geworden, die Verführungskraft der Bilder, ihre „fatale Schönheit“ - mehr als vier Stunden, in denen Godard Motive aus Zeitgeschichte, Kunst- und Filmgeschichte montiert und befragt. Stumm- und Tonfilm überlagern sich, Bilder des Krieges und der Hoffnung, Hitchcocks Vögel verwandeln sich in angreifende Flugzeuge, die den Himmel verdunkeln.
Aber die Bilder, sagt Jean-Luc Godard, sind das Glück. Zuletzt liest er jenen kurzen Text von S.T. Coleridge, den Borges aufnahm, in sein „Buch der Träume“: „Wenn ein Mensch im Traum das Paradies durchwanderte und man gäbe ihm eine Blume als Beweis, dass er dort war, und er fände beim Aufwachen diese Blume in seiner Hand - was dann?“ Eine gelbe Rose ist zu sehen, Godard blickt in die Kamera, sein Gesicht geht über in ein Gemälde. „Was bleibt noch zu sagen?“, fragt er. „Dieser Mensch war ich.“ Und das Bild erlischt.
3. Dezember 2015, Stuttgarter Nachrichten